Das spätgotische Rathaus ist sicherlich der originellste Fachwerkbau Deutschlands und wurde 1484 errichtet. Diese Jahreszahl ist in altertümlichen arabischen Ziffern an Tragpfosten der Nordseite und der Vorderfront eingestemmt. Der Baumeister des prachtvollen Gebäudes ist unbekannt. Der eigentliche Bau ruht auf wuchtigen, schweren Eichenpfosten. Die schöne Westfront mit dem abgekanteten Giebel und den Erkertürmchen gibt ein einmaliges Bild mittelalterlichen Charakters. In der unteren, ursprünglich ganz offenen Halle fanden die Gerichtssitzungen statt. Die alte Gepflogenheit, derartige Sitzungen im Freien unter einem Gerichtsbaum abzuhalten, wurde durch die offene Halle beibehalten. Bei schlechtem Wetter wurde hier auch Markt gehalten. In der Halle hängt noch die alte Stadtwaage. Auch kann man eine Tuchpresse mit einer dicken Spindel aus dem 16. Jahrhundert bestaunen. In einem mächtigen Eichenpfosten an der Nordseite ist eine eiserne Elle eingelassen. Hier wurden früher die im Gebrauch befindlichen Maßstäbe geeicht und jedermann konnte die auf dem Markt gekaufte Tuchware nachmessen.
Auf der gegenüberliegenden Seite ist die heute zum Gasthaus "Drei Hasen" gehörende "Museumsstubb". Bevor das Odenwaldmuseum 1984 seinen Platz in der Kellerei gefunden hat, war dasselbe in dem um
1500 erbauten Haus untergebracht. Hier war früher das Gasthaus "Zur Traube", das lange Zeit als Quartier für ein preußisches Werbekommando diente. Es erhielt damals den Namen "Preußischer
Hof".
Im Oberstock befindet sich der Rathaussaal. Im Laufe seiner Geschichte hatte er schon viele Aufgaben zu erfüllen. Er wurde nicht nur für Ratsversammlungen genutzt; sondern diente auch als Kath. Kirche, Lazarett, Schulsaal, Wahllokal, standesamtlicher Trauungssaal. Zeitweise war im Rathaus die Verwaltung der Stadt (bis 1920) untergebracht. Bis 1973 fanden hier die Sitzungen der Stadtverordneten statt, die jeweils durch das Läuten der Rathausglocke eingeleitet wurden. Durch die Gebietsreform ist der Saal jedoch zu klein geworden. Für kleinere Konferenzen, Empfänge, Ausstellungen und sonstige besondere Anlässe wird der geschmackvoll eingerichtete Saal auch heute noch genutzt. In dem geräumigen Dachspeicher wurde der Zehnte für die Gemeinde eingelagert, um damit die städtischen Bediensteten in Natural-Lohn zu besolden. Bei einer Renovierung im Jahre 1743 wurde die West- und Südseite verschindelt. 1903 wurde der ursprüngliche Zustand wieder hergestellt und das schöne Fachwerk freigelegt.
Das einmalig schöne und malerische Bild vom Marktplatz mit Rathaus wäre ohne den im Renaissance-Stil erbauten Marktbrunnen nicht vollständig. Er wird mit Recht als der schönste der zahlreichen Michelstädter Brunnen bezeichnet und wurde 1575 von Graf Georg II. zu Erbach gestiftet. Der mit Schmiedeeisen verzierte, mit Löwenköpfen und Ornamenten behauene hohe Sandsteinblock zeigt im oberen Teil das Michelstädter Wappen. Die krönende Figur stellt den Erzengel Michael mit der Seelenwaage dar, wohl als Sinnbild der Gerechtigkeit oder als Anspielung auf den Namen der Stadt.
Der Name der Stadt leitet sich allerdings nicht von Michael ab, sondern kommt von althochdeutsch "Michel" = groß. Dennoch gilt der Erzengel Michael als Schutzpatron der Stadt, da ihm die Stadtkirche geweiht ist.
Der "Löwenhof", der den Marktplatz als Barock-Bau nach Norden begrenzt, ist im Jahre 1755 aus 3 Anwesen entstanden. Er diente als Station für den Liniendienst der Postkutschen. Hier wurden die Pferde gewechselt, und die Reisenden fanden ein Nachtquartier. Die Torbögen im Innenhof des Anwesens kennzeichnen die Lage der Remisen und Stallungen.
Nachdem das Rathaus nach 1920 für die Verwaltungsaufgaben zu klein geworden war, wurde dieBürgermeisterei in diesem Barockgebäude untergebracht. Durch die nach 1970 erfolgten Eingemeindungen
haben die Aufgaben der Stadtverwaltung in starkem Umfang zugenommen, so daß neue Räumlichkeiten benötigt wurden, die man im Anwesen des ehemaligen Kurhauses in der Frankfurter Straße fand. Seit
1977 befindet sich nur noch das städtische Verkehrsbüro am Marktplatz.
Die am Marktplatz stehenden Fachwerkhäuser runden das Ensemble um das Rathaus in hervorragender Weise ab.
Für die Erlaubnis zur Veröffentlichung des Wappens und der Texte danken wir der Patengemeinde Michelstadt!
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